Vor dem Hintergrund der zunehmend globalen chinesischen Innovations- und Digitalisierungsoffensive wird der Ansatz der 360° IP Strategie noch interessanter.
Chinesische Unternehmen sind pragmatisch und arbeiten immer im Kollektiv. Sie tüfteln weniger, sondern gehen von vornherein mehr vom Nutzen ihrer Innovationen aus als ihre westlichen Kontrahenten.
Chinesen konzentrieren sich weniger auf radikale Durchbrüche, sondern setzen auf die schrittweise Verbesserung bestehender Produkte, Dienstleistungen, Prozesse und Geschäftsmodelle. Dabei arbeiten sie im Kollektiv. Die Projektteams lösen die Probleme bei Entwicklungen, indem sie Mitarbeiter und Kunden am runden Tisch versammeln. Der Informationsfluss ist bereichsübergreifend und mit kurzen Wegen sehr schnell, die Berücksichtigung der Nutzenstiftung ist sichergestellt. Was beim Kunden in der Praxis versagt, wandert kurzerhand zur Verbesserung zurück ins Labor.
Weiqi, die chinesische Variante des Schachspiels, funktioniert anders als das königliche Spiel im Westen. Es geht weniger darum, feindliche Positionen direkt zu bekämpfen, vielmehr sollen sie eingekesselt werden. Im westlichen Schach gehen wir individuell, direkt und linear vor, Chinesen spielen ihr Schach Weiqi kollektivistisch, indirekt und einkreisend (s. unten). Denken in 360 Grad gehört zur chinesischen Kultur. Wer von den gegnerischen Steinen eingeschlossen ist und sich nicht mehr bewegen kann, muss das Spiel (den Markt) verlassen.
Auch bei der Expansion chinesischer Unternehmen in Übersee erinnert vieles an ein Weiqi-Spiel. Chinas Unternehmen gehen alles andere als konfrontativ vor. Sie greifen dort an, wo sie bei den westlichen Wettbewerbern Schwächen sehen – sei es im Design, in der Innovation oder im Service. Auf diese Weise wachsen oft unmerklich chinesische Wettbewerber heran, die erst dann sichtbar werden, wenn sie schon auf den Märkten präsent sind und größere Marktanteile erobert haben. Diese umzingelnde Wettbewerbsstrategie zeigt sich auch in der Patentstrategie chinesischer Unternehmen. Sie melden möglichst viele Patente an und versuchen dadurch, ihre Angebote im Wettbewerb strategisch abzusichern. Sie umgehen die Verbietungsrechte ihrer Konkurrenten, indem sie beispielsweise auf Künstliche Intelligenz oder die Steuerung von Geräten durch Sprache oder Gestik setzen. Dadurch können sie die Exklusivität westlicher digitaler Geschäftsmodelle bedrohen, ohne Patente zu verletzen.
China ist schon heute einer der weltweit größten Investoren und Anwender digitaler Technologien sowie Heimat von einem Drittel aller privaten Startups mit einem Wert von über einer Milliarde USD. Die asiatische Nation hat die ökonomische Größe, um die Kommerzialisierung digitaler Geschäftsmodelle rapide voranzutreiben. Die aggressiven chinesischen Internetgiganten Alibaba, Baidu, Tencent und BAT sind gerade dabei, ein facettenreiches und multiindustrielles digitales Ökosystem zu schaffen, das auch westliche Unternehmen massiv und nachhaltig beeinflussen wird. Chinas digitale Innovationsoffensive hat gerade erst begonnen und wird sehr schnell wachsen und an Bedeutung gewinnen.
Westliche Unternehmen müssen auf diese neue chinesische Herausforderung angemessen reagieren. Sie sind aufgefordert, digitale Geschäftsmodelle global expandierender chinesischer Champions sehr genau zu studieren sowie chinesische Digitalpatente zu identifizieren und zu analysieren. Sie müssen wissen, welche digitalen Technologien chinesische Unternehmen besitzen und was sie wie schützen. Wo sind ihre Stärken und Schwächen, welche technischen Trends sind erkennbar, und was sind ihre F&E-Strategien? Zur Beantwortung dieser Fragen sind zeitnahe originäre Recherchen in chinesischer Sprache unabdingbar.
Autor: Dr. Hans Joachim Fuchs